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Was sind Leseschwierigkeiten und wer ist betroffen?

Lernende mit Leseschwierigkeiten fallen im Schulalltag oft dadurch auf, dass sie Texte nicht selbstständig lesen und verstehen können. In vielen Fällen liegt die Ursache in einer noch unzureichenden Leseflüssigkeit. Auch Mängel in der mündlichen Sprachfähigkeit, fehlendes Weltwissen und viele weitere Faktoren können eine Rolle spielen.

Spezifische Herausforderungen und Schwerpunkte

Lesen ist ein komplexer und vielfältiger Vorgang. Neben Faktoren wie beispielsweise das Weltwissen oder mündliche Sprachfähigkeiten spielt die Leseflüssigkeit eine wesentliche Rolle. Daher stellt sich oft die Frage: Lesen die Lernenden die Wörter automatisiert, bzw. Sätze und Texte genug flüssig? Denn die Leseflüssigkeit auf Wort- Satz- und Textebene ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung, um Texte verstehen zu können. Müssen Sätze und Texte mühsam "erlesen" werden, fehlen kognitive Ressourcen, fürs Verstehen der Textabschnitte und Texte.

Überblick Leseflüssigkeit und verstehendes Lesen

(in Anlehnung an Krug und Nix, 2017 und Neugebauer/Nodari, 2012)

Leseflüssigkeit ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung fürs Leseverstehen.

Die Leseflüssigkeit auf Wortebene ist Grundlage für die Leseflüssigkeit auf Satz bzw. Textebene. Die Leseflüssigkeit entlastet das Arbeitsgedächtnis und schafft freie kognitive Ressourcen für das Textverstehen.
Grafik: Die Leseflüssigkeit ist wichtig für das Textverstehen

Voraussetzungen für das verstehende Lesen

Voraussetzungen
Je besser die verschiedenen Voraussetzungen bei den Lernenden erfüllt sind, desto eher kann Verstehen gelingen
Möglichkeiten wie Lernende in der Regelschule mit unterschiedlichen (fehlenden) Voraussetzungen begleitet werden können (Auswahl)

Leseflüssigkeit auf Wort- und Satzebene

  • Genau, automatisiert lesen
  • angemessen schnell und angemessen betont lesen
  • Erfassung durch Lautleseprotokoll
  • Förderung durch Lautlesetandems mit Wortlisten und kurzen Texten
Kenntnisse des Sprachsystems
(Bsp.: Wortschatz, Satzstrukturen)

Texte didaktisieren (regelmässig über längere Zeit)

Siehe dazu:

Kurzer Artikel: Neugebauer, C. (2008): Didaktisierte Texte – was ist das?
www.netzwerk-sims.ch/leseverstehen

Neugebauer, C., C. Nodari (2012): Förderung der Schulsprache in allen Fächern. Praxisvorschläge für Schulen in einem mehrsprachigen Umfeld. Kindergarten bis Sekundarstufe I. Bern: Schulverlag plus.

 

Weltwissen

  • allgemein (Bsp.: wie läuft ein Ereignis normalerweise ab?)
  • fachspezifisch (Bsp.: Fachwortschatz)
Kontextwissen
(Bsp.: In welchem Zusammenhang steht der Text?)
Textwissen
(Bsp.: Textsortenwissen)
Routine im Leseverhalten
(Bsp.: Lesestile anwenden)

Wer sind die Lernenden mit Leseschwierigkeiten?

In jeder Klasse finden sich Lernende, die (vorübergehend) Schwierigkeiten im Lesen haben. Drei Gruppen können unterschieden werden (Hartmann, 2014, S. 167):

Schritt
1

Risikolernende: Lernende mit

  • spezifischen Sprachentwicklungsstörungen oder anderen Sprachrückständen (Bsp.: bei Migration)
  • genetischen Dispositionen für Lese-Rechtschreibschwierigkeiten LRS (als Sammelbegriff für individuelle Schwierigkeiten im Lesen und/oder Schreiben)
  • Entwicklungsbeeinträchtigungen des Hörens, des Lernens oder der sozialen Kommunikation
  • erschwerten sozioökonomischen/familiären Gegebenheiten (Bsp.: Armut, mangelnde Anregungen)

Bei Kumulationen dieser Faktoren kann sich das Risiko für Schwierigkeiten im Lesen deutlich erhöhen. Es ist aber durchaus auch möglich, dass sich anfängliche Schwierigkeiten durch frühe präventive (Zusatz-)Massnahmen überwinden lassen, denn die Risikokinder profitieren besonders von einem qualitativ guten Unterricht (Hartmann, 2014). Allerdings sollten diese Kinder besonders gut beobachtet werden, weil doch ein Risiko besteht, länger andauernde Schwierigkeiten zu entwickeln (Landerl & Haller, 2019).

Schritt
2

Lernende mit schriftsprachlichen Lernbeeinträchtigungen/Lesestörung/Lese- Rechtschreibstörung, die trotz präventiver Bemühungen im Unterricht deutliche und anhaltende Probleme beim Erwerb des Lesens und/oder Schreibens zeigen. Sie sind auf pädagogisch-therapeutische Massnahmen angewiesen.

Schritt
3

Lernende mit kognitiven Beeinträchtigungen: Sie haben langandauernde und umfangreiche Verzögerungen im schulischen Lernen und verzögerte Entwicklung im Schriftspracherwerb (Hartmann, 2014, S. 167).

Neben individuellen Faktoren (Bsp.: genetische Faktoren, Informationsverarbeitung) spielen die Bedingungen im Elternhaus (Bsp.: Armut in der Familie, Schulbildung der Eltern) und der Unterricht (Bsp.: ungünstige methodisch-didaktische Gestaltung) eine wesentliche Rolle beim Lesenlernen.

Schwierigkeiten im Leselernprozess vorbeugen

Ein qualitativ guter Unterricht ist die wichtigste Massnahme, um Schwierigkeiten im Leselernprozess vorzubeugen (Klicpera et al., 2020, S. 218; Schneider, 2017, S. 123). Zu beachten ist, dass in der Schule zwei Orientierungen unterschieden, beachtet und parallel gefördert werden müssen (Schneider et al., 2013, S. 2):

1. Entwicklungsorientierung

Bei der Entwicklungsorientierung wird danach gefragt, was die Kinder schon können. Wo steht das Kind in der Entwicklung seiner Voraussetzungen und Grundfertigkeiten wie dem Wortlesen oder der Leseflüssigkeit? Welche Ressourcen bringen die Lernenden schon mit und wo ist noch Entwicklungsbedarf?

  • Leseentwicklung und häufige Schwierigkeiten

  • Erfassung und Diagnostik

2. Handlungsorientierung

Bei der Handlungsorientierung geht es darum, Lesen zur Kommunikation zu nutzen: Das heisst, es wird mittels Texten gelernt und kommuniziert; zum Beispiel beim Lesen von Texten in verschiedenen Fächern. Diese handlungsbezogenen Fähigkeiten sollten bei den Lernenden von Beginn weg, d.h. bereits ab Zyklus 1 (Kindergarten), angeregt werden. Denn daraus erwächst die Motivation zu lesen (Becker-Mrotzek et al., 2015, S. 17; Schneider et al., 2013, S. 2). Deshalb ist das Leseverstehen auf allen Entwicklungsstufen als Kommunikationsform zentral: Es geht stets darum, mittels Bildern, Wörtern, Sätzen und/oder Texten Informationen zu konstruieren.

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